
Ein Liebesbeweis steht am Anfang allen Dramas des berühmten Shakespeare-Stoffes König Lear. Dieser möchte nämlich die Liebe seiner drei Töchter testen, um - vom Regieren müde - die Größe der Erbschaft danach auszurichten und das Land unter ihnen aufzuteilen. Doch seine Lieblingstochter enttäuscht den König, da sie ihn für sein Empfinden zu wenig liebt, während sich die anderen beiden Schwestern nur so an Schmeicheleien überbieten und als alleinige Haupterbinnen des Königreiches belohnt werden.
Eitel und herrschsüchtig muss Lear jedoch erkennen, dass die verstoßene Tochter die wahre Liebende ist und reagiert auf die Zurückweisung der Erbinnen und deren Heuchelei nicht nur mit rasender Wut, sondern muss auch das Schicksal ertragen, dass zum Schluss alle drei tot sind. Die eine vergiftet die andere und ersticht sich selbst, auch die ehrliche Lieblingstochter wird umgebracht. Jähzornig und alt erkennt Lear erst im Wahn die Wahrheit. 1992 inszenierte Dieter Dorn am Schauspielhaus den tragischen Stoff in einer Neu-Übersetzung des Dramaturgen Michael Wachsmann. Jürgen Roses Bühne aus Brettern und Segeltuch wird zur heruntergekommenen Burg, eine Bretterbude, die Schauplatz für die Bescherung und die darauf folgende familiäre Tragödie wird.
„Die Machenschaften der Mordbuben und Mordweiber sind auch ein schwarzes Boulevardtheater“, schreibt Benjamin Henrichs in seiner Zeit-Kritik „Der König ist nackt“. Eine Familienposse, kein Welttheater, in der slapstickhaft gekämpft, besinnungslos geschlachtet wird und es kaum Überlebende gibt. Rabenvater Lear gibt in seiner Sehnsucht nach Liebe seine Macht gedankenlos ab und bekommt einen Tobsuchtsanfall, verstummt jedoch zuletzt am Rand der Bühne. Dieter Dorn schuf mit seinem Lear ein fünfeinhalb Stunden Spektakel, das durch seine Kunstfertigkeit im Theater nur selten zu finden ist und das intelligent unterhält und aufs klügste rührt. Zum Ende der Spielzeit 2012/2013 wird Johan Simons den Lear auf seine Weise an den Kammerspielen inszenieren.